Barbara Schwarcz: »Nicht auszuschließen, dass ich nie erwachsen geworden bin.«
Wie kam es zu Ihrem Roman über den nicht enden wollenden Sommer als Kind?
Der Text war ursprünglich eine Erzählung, die ich für einen Wettbewerb geschrieben habe. Im Zentrum stand nur dieses eine Bild: Ein Kind, das alleine durch ein Hochhaus streift, auf der Suche nach Gleichgesinnten, aber es findet keine, weil Sommerferien sind und alle plötzlich in andere Leben verschwunden. Das ist ein sehnsüchtiger, erwartungsvoller Zustand, aber auch einer der Einsamkeit und einer, den ich sehr stark mit meiner eigenen Kindheit verbinde. Nachdem ich 2017 das Wiener Literaturstipendium bekommen habe, ist aus der Erzählung ein Roman geworden. Wie, das kann ich mir nicht erklären. Für mich hat das Schreiben im Kern immer mit dem Unbewussten zu tun, es bleibt ein Geheimnis und damit außerhalb der quadratischen Welt der Ratio. Den Wettbewerb habe ich übrigens nicht gewonnen. Die Erzählung ist aber dann 2016 in der Literaturzeitschrift manuskripte erschienen.
War es eine Herausforderung, die Erzählperspektive eines Kindes einzunehmen?
Nein, und das hat mehrere Gründe. Erstens ist es ein bisschen komplizierter mit der Erzählperspektive, die eigentlich eine doppelte ist: Der Text arbeitet ja mit einem Du und in diesem Du steckt einerseits die Siebenjährige, andererseits erzählt da immer die Erwachsene mit, die einmal dieses Kind gewesen ist und die ein anderes Reflexionsvermögen sowie andere sprachliche Mittel zur Verfügung hat. Zweitens ist die Zeit etwas so Relatives, dass mir meine Kindheit, beziehungsweise bestimmte Kindheitsgefühle, immer noch sehr gegenwärtig sein können. Nicht auszuschließen, dass ich nie erwachsen geworden bin.
Spielt der Begriff »Nostalgie« eine Rolle für Sie?
Ich verstehe, dass man aus meinem Text eventuell auch Nostalgisches herauslesen kann, wenn einem danach ist. Beim Schreiben war das Gefühl der Nostalgie aber nie ein Antrieb für mich, gerade weil im Akt des Schreibens die Kategorien von Vergangenheit und Gegenwart völlig aufgehoben sind. Wenn alles präsent ist, muss man nicht sehnsüchtig sein. Das ist ja das Schöne an der Schriftstellerei. Man kann sich alles herbeischreiben und es ist dann genauso echt wie der Sessel, auf dem man sitzt.
Welche Rolle spielt Sprache in der Beziehung, die das Kind zur Welt hat?
Wenn sich rund um einen nichts tut und scheinbar äußere Reize wegfallen – so empfindet das Kind in vielen Momenten diesen Sommer –, bleiben nur die Wörter im Kopf. Und diese Wörter werden zu Material, mit dem man spielen kann – einerseits. Andererseits sind sie ein Tor zur Erwachsenenwelt. Das Problem ist nur, dass die vorhandenen Wörter nicht ausreichen, um das auszudrücken, was man so gern ausdrücken möchte. Das Kind will sich verständlich machen, sich Gehör verschaffen, scheitert aber ständig daran, weil die Wörter wie zu kleine Tischdecken auf den Dingen liegen. Unter der Sehnsucht des Kindes, endlich abzureisen, liegt die viel größere Sehnsucht, eine Sprache zu finden, einen Wortschatz zu heben, der all das unförmige Innenzeug, das in einem rumort, nach außen übersetzen kann, um so mit der Welt in Beziehung zu treten. Es ist also eine doppelte Sehnsucht, eine äußere und eine viel stärkere innere.
Welche Bedeutung haben dabei die ungarische Muttersprache des Vaters und der Dialekt der Mutter?
Sie bestimmen den Blick der Siebenjährigen auf die Welt, indem sie einen doppelten, dreifachen Boden unter ihren Füßen einziehen. Das ist ein ambivalentes Gefühl. Manchmal sorgt es für innere Unsicherheit, wenn dieser Boden zu schwanken beginnt, weil er von anderer Beschaffenheit ist als jener der Umgebung. Viel öfter aber tut sich zwischen den Doppelt-dreifach-Böden eine Freiheit auf, die eine merkwürdige Lust hervorruft, die Lust, mit diesem Freiraum zu spielen und zu erfinden, schöpferisch zu sein. Dem deutschen Wort »Löwe« zum Beispiel steht der ungarische »oroszlán« gegenüber. Durch den Spalt dazwischen schaut das Kind anders auf die Welt als all jene, die nur den »Löwen« kennen.
Was bedeutet Ihrer Protagonistin Astrid Lindgren?
Die »Bullerbü«-Bücher sind der erste Kontakt mit Literatur und also eine Initiationserfahrung für die Siebenjährige, die in ihrer Sommereinsamkeit mit diesen Büchern eine faszinierende neue Welt entdeckt, einen Anfang, an dem auch das Bedürfnis steht, selbst zu erfinden und zu schreiben.
Wäre dieser Sommer nicht so still gewesen, hätte sie diese Welt vielleicht nie entdeckt. Am Ende spürt das Kind, dass das Beisichsein und die Welt der Bücher und des Schreibens so sehr zusammengehören, dass das eine ohne das andere nicht denkbar ist.
Bullerbü ist außerdem der absolute Gegenentwurf zu der nüchternen Vorstadtgegend, in der die Familie wohnt. Auch dort träumt sich das Kind hin. Also doch eine dreifache Sehnsucht.