Gabriele Kögl im Gespräch zu »Gipskind«
Wie viel von Andrea steckt in Ihnen?
Es steckt einiges von mir in Andrea, schon deshalb, weil Andrea der Name war, den ich als Kind gerne gehabt hätte. Vor allem steckt in Andrea meine Beziehung zur Großmutter, über die ich im »Gipskind« das erste Mal schreibe. Ich habe in früheren Büchern schon einiges Biografisches anklingen lassen, zum Beispiel den Umgang mit Tieren und Kindern auf einem Bauernhof in den sechziger Jahren in »Das Mensch« oder den Selbstmord meines Bruders in »Mutterseele«, aber um über die Kostbarkeit meiner Beziehung zu dieser Großmutter väterlicherseits zu schreiben, mussten viele Jahre vergehen. Ich hatte lange das Gefühl, die immense Bedeutung, die diese Beziehung für mich hatte, literarisch gar nicht fassen zu können. Nun hoffe ich, dass es mir gelungen ist. Ich spürte schon als kleines Kind, dass sie mir unter den besonderen Umständen das Leben gerettet hat, um einer völligen Hospitalisierung zu entgehen, später dann musste ich ihr immer wieder das Leben retten, um dem Ausgeliefertsein an die Eltern, die nichts von meiner Gefühls- und Gedankenwelt verstanden haben, zu entkommen. Ich war beherrscht von dem Gefühl und der Angst, ihr Sterben würde auch mein Tod sein.
Steht der Roman Ihrer Ansicht nach in der Tradition der österreichischen Antiheimatromane oder ist er mehr der Erinnerungsliteratur zuzuordnen, wie zum Beispiel Annie Ernaux?
Weder das eine noch das andere in Reinform. Aber viel mehr Annie Ernaux als Innerhofer, Wolfsgruber oder Winkler. Auch deshalb, weil ich über Mädchen und Frauen und ihre Herkunft schreibe. Die sogenannte Antiheimatliteratur war in Österreich ja sehr männerbestimmt. Mit »Das Mensch« war ich eine der ersten Frauen, die über die weibliche Wahrnehmung einer brutalen Landkindheit geschrieben hat. Diese weibliche Sicht wurde aber nur von wenigen zur Kenntnis genommen, von Ruth Klüger, als eine der wenigen Rezensentinnen damals, die diesen weiblichen Aspekt auch bei ihrer Laudatio zum Brentano-Preis stark betont hat. Ansonsten waren es fast nur Männer, die das Buch besprochen haben, und da kam der weibliche Aspekt der Betrachtung kaum vor. Annie Ernaux auch deshalb, weil es um Scham und Verrat der Herkunft geht. Zuerst die Scham darüber, aus so einer niederen Schicht zu kommen, dann der Verrat – in meinem Fall auch an der geliebten Großmutter – weil man sie verlässt, dann aber – und das fast als Gegensatz zur Antiheimatliteratur – die Erkenntnis, dass die eigene, durch Scham selbst abgewertete Schicht für andere Gesellschaftsklassen durchaus interessant sein kann. Dies haben die Antiheimatliteraturschreiber durch ihren Erfolg dann zwar erlebt, aber in ihren Büchern kaum thematisiert, soweit ich mich erinnere. Mir war es aber wichtig, diese Erkenntnis der jugendlichen Protagonistin im »Gipskind« durchaus einfließen zu lassen. Dann kommt das Bestreben, von einer höheren Klasse akzeptiert zu werden, mit dem baldigen Erkennen, dass es auch dort Regeln gibt, denen sie nicht gehorchen möchte und die ihr genauso fragwürdig erscheinen wie die Gesetzmäßigkeiten der eigenen Herkunft.
Zu ihrer Mutter hat Andrea ein schwieriges Verhältnis. Können sich die beiden je versöhnen?
Das ist nicht auszuschließen, aber es hat für Andrea keine zentrale Bedeutung. Sie hat immer Mutterersatz gefunden. Zuerst in der Großmutter, dann in der Tante, später in der Mutter ihres Freundes. All diese unterschiedlichen Muttererfahrungen ersparen es ihr, die Zwangsneurosen ihrer leiblichen Mutter zu wiederholen. Sie kann mit einem distanzierten Blick auf sie schauen, ich denke, das gelingt nur wenigen Kindern.
Musik spielt im Roman eine große Rolle, sei es Schlager, Konstantin Wecker oder Simon & Garfunkel – war das eine typische Geschmacksentscheidung?
Die Geschmacksentscheidung ist viel mehr eine Geschmacksentwicklung. Das sentimentale Kind, das mit primitivster volkstümlicher Musik und kitschigen Schlagern aufwächst, weil es nichts anderes gibt in der wenig gebildeten Umgebung, entdeckt die Popmusik dieser Zeit genauso wie die Texte des jungen Wecker, die eine neue Welt eröffnen. Ich denke, das war nicht untypisch für viele Jugendliche auf dem Land in dieser Zeit.
Was wurde aus Andreas und Arthurs Beziehung?
So wie ich es mir vorstelle, bleibt Arthur zu sehr in den Wünschen und Vorstellungen seiner Herkunftsfamilie verhaftet, als dass Andrea sich damit arrangieren könnte. Wenn sie den Weg zur Künstlerin schafft, sei es als Schauspielerin, Filmemacherin oder Objektkünstlerin, dann wird sie jegliches Streben nach einer höheren Schichtzugehörigkeit überwinden können, ihre eigene Herkunft ohne Scham akzeptieren und von einem individuellen Standpunkt auf das Leben schauen und ihre Erfahrungen konstruktiv in ihre Arbeit einbeziehen können.